Die Verlorene Wette

Gerade noch hatte seine Partei eine Wahl verloren, jetzt sollten die Franzosen gleich wieder abstimmen. Am 09. Juni 2024 löste Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die Nationalversammlung auf. Vorangegangen war ein historisch schlechtes Ergebnis bei den Europawahlen: Macrons Bündnis hatte nicht einmal halb so viele Stimmen erhalten wie das rechtspopulistische Rassemblement National (RN).

Macron warf also alles in die Waagschale: In 21 Tagen sollte ein neues Parlament gewählt werden, um seine Legitimität und Handlungsfähigkeit erneuern. Seitdem ist ein Jahr vergangen – ging die Wette auf?

Das Parlament ist blockiert

Direkt nach dem Ausgang der Parlamentswahlen hörte man von vielen Beobachtern erstmal Erleichterung. Das Rassemblement National hatte keine absolute Mehrheit erzielt und konnte Macron auch keinen eigenen Premierminister aufzwingen.

Auf Erleichterung folgte aber Ernüchterung. Nicht nur das RN, niemand konnte einen neuen Premier stellen. Mit den Wahlen von 2024 ist das französische Parlament vollends in drei verfeindete Blöcke zerfallen: Macrons Bewegung Ensemble wird zur Rechten vom RN eingerahmt, zur Linken von „la France Insoumise“ unter Jean-Luc Mélenchon. Beide Parteien sind auf ihre Art extrem und verweigern Macron die Kooperation – regieren wollen sie nur mit einer absoluten Mehrheit.

Und so gingen 77 zähe Tage ins Land, bis eine neue Minderheitsregierung gebildet werden konnte. Nur dass die nach gut zwei Monaten schon wieder zerfiel. Der Grund: Zusammen können Links- und Rechtspopulisten jeden Premierminister durch ein Misstrauensvotum stürzen. Eine Regierung funktioniert nur so lange, wie sie von einem der beiden Lager toleriert wird.

Sein Befreiungsschlag hat Macron also nur weiter ins Netz der Abhängigkeiten stolpern lassen. Er bleibt zwar Präsident, doch seine Regierung ist gelähmt. Für jeden neuen Schritt muss er bei seinen parlamentarischen Feinden hausieren; Wirkliche Initiativen werden damit unmöglich.

Und noch eine Kette bindet die Regierung: der Haushalt. 113% des Bruttoinlandsprodukts beträgt die französische Staatsschuld, das ist fast doppelt so viel wie in Deutschland. Entsprechend gering sind die Möglichkeiten der Regierung. Nur mit der Zustimmung des RN konnte der neue Premierminister Bayrou im Februar einen Haushalt verabschieden und musste dafür zwei Misstrauensvotums überstehen.

Macron könnte die Nationalversammlung wieder auflösen

Die Gründe des parlamentarischen Patts reichen tief. 2017 sprengte Macron die traditionelle Links-Rechts-Aufteilung des Landes. Mit seiner Bewegung etablierte er sich als neues politisches Zentrum, das ni droite, ni gauche (weder rechts noch links) sein wollte. Sozialisten und Republikaner, die das Parteiensystem davor über Jahrzehnte dominierten, schrumpften zu bloßen Schatten ihrer einstigen Größe. Ihre Wähler wanderten entweder in die Mitte zu Macron oder wandten sich an die politischen Ränder.

Die Veränderung der Parteien folgt der Veränderung der Gesellschaft. Die ist mindestens so geteilt wie ihr Parlament. Die Linien verlaufen zwischen Paris und seiner verarmten Peripherie, zwischen Globalisierungsgewinnern und Verlierern und nicht zuletzt entlang der Haltung zu Migration und Glauben. Die traditionellen Konflikte des 20. Jahrhunderts mobilisieren nicht mehr, klassische Einrichtungen wie Gewerkschaften und Kirchen haben ihre Bindungskraft verloren. Ihren Platz füllen heute andere, extremere.

Für Frankreich ist das ein Problem, viel mehr noch für Macron. Das französische System baut auf eine stabile Parlamentsmehrheit der Regierung. Ohne sie ist der sonst so mächtige Präsident nur ein Papiertiger. Laut der Verfassung hat Macron heute wieder das Recht, die Nationalversammlung aufzulösen. Nur können ihn die Umfragen keine Hoffnung auf eine Verbesserung machen. So könnte die Blockade noch bis 2027 andauern: Da endet die zweite Amtszeit von Macron, eine dritte verbietet die Verfassung. Die politische Krise dürfte aber anhalten – sie ist größer als Macron und ihre Wurzeln reichen tief in die französische Identität.

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