Demokratie-Krise, Identifikationskrise, Bürokratie in der Krise. Wenn es um die Europäische Union geht, ist das Wort Krise oft nicht weit weg. Der Zusammenhalt innerhalb der Union sinkt, europäische Zusammenarbeit und Politik stoßen an ihre Grenzen wenn es um das Thema Wirtschaft und Einwanderung geht. Hat diese Institution wirklich eine Zukunft? Und wer wird diese Zukunft gestalten? Beim Europäischen Jugendparlament können Schüler und Studenten Politik hautnah erleben und gestalten. Wir begleiteten den achtzehnjährigen Hannes einen Tag lang in seiner Rolle als Abgeordneter.
Hannes Pries wirkt älter als er es in Wirklichkeit ist. Der junge, blonde Mann mit dem blauen Jeanshemd könnte gut Mitte Zwanzig sein, ist aber erst 18. Er wirkt müde und gestresst, ist allerdings dennoch hochkonzentriert.
Es ist neun Uhr dreißig an einem Sommertag in Augsburg, der offiziell dritte Tag des Internationalen Akademischen Sommerforums hat vor einer halben Stunde begonnen. Veranstalter ist das Europäische Jugendparlament in Deutschland. Seit fast dreißig Jahren bietet der Verein Jugendlichen eine Plattform, um sich praktisch mit Europapolitik auseinanderzusetzen. Die Simulation basiert dabei auf drei Säulen: Kommunikationstraining, Ausschussarbeit und einer Parlamentarischen Vollversammlung am Ende.
Hannes gestikuliert aufgeregt mit seinen Armen, während er versucht deutlich zu machen, dass die derzeitige staatliche Kontrolle von Firmen in der globalen Wirtschaft nicht greift. Eine junge Irin geht auf diesen Tonfall ein. Eine hitzige Debatte entsteht. Nicht für alle zuvor aufgestellten Fragen lässt sich eine Lösung finden… Hannes sitzt im Ausschuss für Entwicklung. Aufgabe ist nicht nur, sich untereinander zu einigen. Gleichzeitig gibt es einen Schwesterausschuss, in Hannes Fall den für Menschenrechte, und beide Ausschüsse müssen sich ihre Ergebnisse gegenseitig präsentieren, argumentieren und für eine Pressekonferenz am selben Tag zusammenfassen. Keine leichte Aufgabe, wie sich noch zeigen wird.
Junge Erwachsene sind die Gruppe mit der niedrigsten Wahlbeteiligung
Umgeben von einer Blase von engagierten, politisch interessierten jungen Menschen sieht Hannes eine rosige Zukunft auf sich zukommen: „In unserer Generation hält man zusammen und es gibt keine Probleme. Es ist eher die Regierung des jeweiligen Landes, die manchmal Probleme macht. Im April gab es eine Sitzung von uns, bei der acht von zwölf türkischen Jugendlichen seitens der Regierung verboten wurde, an der Veranstaltung teilzunehmen. Manchmal entschuldigen sich Teilnehmer auch für die Position ihrer Regierungen, weil sie ganz anderer Ansicht sind.“ Hannes hebt seine hellen Augenbrauen nach oben und muss dann schließlich lachen. Die Jugendlichen könnten schließlich nichts für die Entscheidungen ihrer Regierungen. Dann krempelt er die Ärmel seines Jeanshemdes nach oben und sagt: „Es gibt also noch einiges zu tun.“
Für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen außerhalb von Hannes Welt sehen die Zahlen allerdings anders aus. Bei der letzten Europawahl gehörten die 21- bis 24-Jährigen zur Altersgruppe mit der niedrigsten Wahlbeteiligung.
Dicht gefolgt von den Erstwählern. Während die allgemeine Wahlbeteiligung der Deutschen bei 48 Prozent im Jahr 2014 lag, wählten nur 39 Prozent der Erstwähler und nur 35 Prozent der jungen Erwachsenen.
Eine Russin mit positivem Blick auf Europa
Durchaus positiv blickt auch die 23-jährige Palina in die Zukunft. Die junge Russin findet, die EU müsste vor allem ihr Konzept ändern: „Ich denke, die EU macht sich zu viele Gedanken darüber, was in anderen Ländern passiert. Sie sollten sich mehr Gedanken über ihre eigenen Probleme machen und diese lösen. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass sie sich überall einmischt und immer neue Baustellen entstehen und die EU deshalb überfordert ist.“ Russland hat eine eigene Rolle in der Welt, das will Palina gar nicht bestreiten. Trotzdem ist sie davon überzeugt, dass diese mit den Positionen der EU vereinbar ist: „Zwischen Deutschland und Russland gibt es gute bilaterale Beziehungen, auch wenn es mal kriselt. Und mit dieser Grundlage haben wir gute Chancen, unsere Beziehungen zur EU weiter zu verbessern.“
Palina und Hannes treffen sich kurz darauf bei der Kooperationssitzung, es ist 11:30 Uhr. Palina ist im Schwesterparlament von Hannes, dem Ausschuss für Menschenrechte. Während der Ausschuss für Entwicklung auch wirtschaftliche Aspekte im Kopf hat, fällt es Palina schwer, diese mit ihren Wünschen zur Förderung der Menschenrechte zu vereinbaren. Während der Diskussionen regt sie sich immer wieder auf und ringt zwischen ihren heftigen Worten nach Luft: „Da muss was passieren!“, „Hallo? Lass mich ausreden“ oder „Das ist doch Schwachsinn! Das können wir doch nicht machen“, sind Ausrufe, die von ihr zu hören sind. Von Hannes Ideal des konfliktfreien Umgangs ist bei der temperamentvollen Russin nicht viel zu spüren. Der 18-jährige schlüpft in Gruppengesprächen gern in die Vermittlerrolle, hört einem Deutsch-Ghanaer angeregt zu, der ihm die ökonomisch-motivierte Entwicklungsarbeit Chinas in Ghana erklärt.
Nikola aus Italien hat ein deutlich kritischeres Verhältnis zur EU als Palina und Hannes. Sein Englisch ist zwar wesentlich schlechter, als das der anderen Teilnehmer. Wenn es aber um seine politische Meinung geht, ist ihm egal, wie lange er braucht, um die Sätze in die richtige Ordnung zu bringen. Als er konkret gefragt wird, was er von der neuen Regierung aus Lega und der 5-Sterne-Bewegung halte, schlägt er sich zunächst die gebräunten Hände vor die Augen, rauft sich das lockige Haar, überlegt, und spricht dann mit starkem italienischem Akzent. „Ich bin nicht zufrieden mit dem aktuellen Kurs meiner Regierung. Sie ist klar anti-europäisch aufgestellt. Die Flüchtlingskrise ist ein Problem, dass wir haben. Zwar macht die aktuelle Politik etwas dagegen, aber die Art und Weise ist einfach zu brutal.“ Bei ihm gibt es keine Wut oder Hass auf Flüchtlinge. Für ihn gibt es vielmehr ein Verteilungsproblem – und ein Macht- und Durchsetzungsproblem innerhalb der EU. „Italien war eines der ersten Länder, dass der EU beitrat. Gleichzeitig haben wir nicht sehr viel Mitspracherecht und Einfluss auf die EU. Ich finde, wir sollten mehr Möglichkeiten haben, uns aktiv einzubringen. Und das gilt nicht nur für uns, sondern auch für andere Länder. Nur so kann ein künftig eine gemeinsame Europapolitik entstehen.“ Erschöpft sinkt er in seinen Stuhl zurück. Nicht nur seine Meinung auf Englisch auszudrücken, hat ihn Kraft gekostet, sondern auch seine eigene Machtlosigkeit gegenüber der Politik im eigenen Land.
Debattieren oder Umsetzen?
Tatsächlich sind es tendenziell die wirtschaftlich erfolgreicheren Länder wie Frankreich und Deutschland, die den Kurs der EU bestimmen. Das viel genannte Demokratieproblem der EU besteht darin, dass die Vertreter der einzelnen Regierungen (versammelt im Europäischen Rat) mehr Macht haben als beispielsweise die Europaabgeordneten im Parlament. So befindet sich der Europäische Rat außerhalb der „Checks and Balances“-Vorkehrungen der EU, hat offiziell kein eigenes Stimmrecht, sondern darf eigentlich nur vermitteln und Empfehlungen aussprechen. Zwar hat sich dieses Demokratiedefizit durch den Vertrag von Lissabon 2009 verringert, von einem Gleichgewicht der Mächte kann trotzdem noch immer nicht die Rede sein.
Das Demokratiedefizit steht allerdings nicht im Fokus beim Europäischen Jugendparlament. Grobe Strukturen werden nur besprochen, wenn es darum geht, wie eine Idee umgesetzt werden kann. „Auf die Finanzierung müssen wir keinen Wert legen, das wäre viel zu kompliziert. Und auch bestehende NGOs diskutieren wir nicht, sondern entwerfen selbst welche“. Hannes scheint von dem Konzept begeistert zu sein. Seiner Fantasie sind keine Grenzen gesetzt – der Umsetzung in der Realität hingegen schon.
Somit ist das Europäische Jugendparlament kein Rollenspiel, wie etwa das Programm „Model United Nations“ (MUN), das an Universitäten oft angeboten und die Simulation der Vereinten Nationen anbietet. Beim Jugendparlament steht das Debattieren und das entwickeln eigener Konzepte im Vordergrund – zumindest im Sommercamp, das in Augsburg stattfand. Dennoch gibt es im Jahr ganze sieben Sitzungen, die die Arbeit des europäischen Parlaments anbieten.
Für Hannes geht es nach der Diskussion mit dem Schwesterparlament zur Pressekonferenz – sein Mittagsessen besteht aus einem kleinen Sandwich, das er auf dem Weg isst. „Tja, so wird das wohl auch in der richtigen Politik gemacht. Keine Zeit für eine richtige Mittagspause.“ Palina trottet hinter Hannes. Selbst der zuvor noch so dynamisch wirkenden Russin scheint die kleine Pause zu benötigen. Um Kräfte zu sammeln, um nachzudenken. „Ich bin gespannt auf die Journalisten von Russia Today.“ Ein breites Grinsen breitet sich auf ihrem Gesicht aus. Nach etwa 30 Minuten strammen Fußmarsch sind sie am Ziel angekommen: Im evangelischen Bildungs- und Begegnungsszentrum Annahof. In dem historischen Gebäude entstand im 16. Jahrhundert die erste Lateinschule der Stadt. Über die Jahrhunderte hinweg bot dieser Ort immer wieder Platz für Wissensaustausch und Horizonterweiterung.
Pressekonferenz mit „Russia Today“ und „Fox News“
Hier ist in einem großen Saal alles feierlich geschmückt, hunderte Stühle sind in Reihen aufgestellt und vorne stehen Tische, dem Publikum zugewandt. An den Tischen ist die europäische Flagge beschäftigt, auf den Tischen stehen Mikrofone und kleine Namensschilder.Obwohl es sich in Augsburg nur um ein Sommercamp handelt, gibt es trotzdem eine große Pressekonferenz zum Abschluss des dritten Tages. Mit dabei sind echte Medien wie der Bayrischen Rundfunk und Augsburger Tageszeitungen – es gibt es auch Jugendliche, die die Position von umstrittenenen Medien wie Russia Today oder dem britischen Boulevard-Blatt The Sun mimen. Die „echten“ Journalisten halten sich zurück und sind von der fast zweistündigen Pressekonferenz erschlagen.
Hannes ist am Ende des Tages müde, aber zufrieden. Er muss die Punkte seines Ausschusses nicht vortragen, dafür haben sich andere gemeldet. Er kann sich um 15 Uhr endlich ein wenig entspannen – bevor es dann zum freiwilligen kulturellen Abendprogramm, inklusive Konzert einiger Teilnehmer, geht.
Hannes ist sich sicher: „Was er damit sagen wollte: Die jugendlichen, die hier teilnehmen, entwickeln eine positive Einstellung zu Europa. Und das ist doch wichtiger, als konkrete und finanzierbare Projekte zu entwickeln. Wir haben zukünftige Politiker hier unter uns, die das Europa der Zukunft gestalten werden.“ Das sagt er mit einer solchen Überzeugung und Selbstsicherheit, dass man ihm sein Alter einfach nicht glauben möchte. Wer mit 18 Jahren mit einer solchen Entschlossenheit von der Zukunft Europas spricht, der macht Hoffnung auf eine sichere Zukunft für die aktuell so kriselten Institution der Europäischen Union.
Natalie Meyer