© Wilfried Hösl

Zum Dahinschmelzen

Turandot ist zurück auf der Bühne des Nationaltheaters – und wie! Keine geringere als Anna Netrebko gab sich mit einem internationalen Rollendebüt in der Titelpartie die Ehre. Wegen des eher kurzen Auftritts der Prinzessin aus Eis konnte sich der Abend zwar nicht zu den potenziellen Netrebko-Festspielen entwickeln, mit denen sicher einige gerechnet hatten. Doch die wenigen Augenblicke genügte der Sopranistin, um ihre ganze Klasse zu demonstrieren. Ohnehin hat Puccinis letzte Oper noch viel mehr zu bieten als diese eine Rolle.

Wer nur für die Operndiva gekommen war musste sich erstmal einen Akt lang gedulden, aber dieser hatte es in sich. Schrill, abgespaced, bombastisch – um nur einige Adjektive zu nennen, die dieser Inszenierung gerecht werden könnten. So ist es kein Wunder, dass „La Fura dels Baus“ auch schon bei den Olympischen Spielen in Barcelona für die Eröffnungszeremonie verantwortlich war. Von Ballett bis Breakdance über Akrobatik in schwindelerregender Höhe und Eiskunstlauf ist alles vertreten, was man sich in einem futuristischen Manga-Kaleidoskop nur erträumen kann. Optisch wirkt das sicherlich mehr als überladen. Parallel erklingt Puccinis ewige Musik mit chinesischem Kolorit, die gleichsam Wucht und Grazie verbindet.

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Die Haupthandlung ist schnell erzählt. Turandot, Tochter des Kaisers von China kehrt jedem Brautanwärter den Rücken, solange dieser nicht ihre drei Rätsel lösen kann. Scheitert der bedauernswerte Kandidat, so muss er dafür mit seinem Leben bezahlen. Überwältigt von der Schönheit Turandots stellt sich Calaf, ein tatarischer Prinz der harten Prüfung. Selbst die Warnungen der Minister Ping, Pang und Pong und seines Vaters Timur können ihn davon nicht abhalten. Als er die Aufgabe tatsächlich meistert, will Turandot ihr Wort aber nicht halten. Furchtlos stellt Calaf ihr ein eigenes Rätsel. Wenn die Prinzessin bis zum nächsten Morgen seinen Namen errate, sei er bereit zu sterben.

Als Vorlage für das Libretto diente das gleichnamige Theaterstück von Carlo Gozzi und Schillers Version des Dramas. Puccini selbst hat mit der Figur der Sklavin Liù ein Gegenstück zu Turandot erschaffen. Dem Prinzen treu verbunden ist sie bereit, grausame Folter zu ertragen und schließlich sogar in den Tod zu gehen, um das Geheimnis seiner Identität zu bewahren. Selene Zanetti meistert diese Rolle bravourös. Besonders lobenswert ist im ersten Abschnitt auch die Leistung Alexander Tsymbalyuks als Timur. Seine Bassstimme ist purer Balsam für die Ohren. Das Orchester spielt zwar hervorragend, es macht den Solisten und dem ebenfalls überzeugenden Chor aber gelegentlich mit zu lauter Dynamik das Leben schwer.

Die Eishülle bröckelt

Nach der Pause ist es soweit. Im Zuschauerraum setzt ein Flüstern ein – ja das ist sie, endlich! Aus der Höhe erstrahlt Netrebkos Sopran wie ein kristallklarer Eiszapfen, der sich als Ausdruck unumstößlicher Macht in die Herzen derjenigen Anwärter bohrt, welche es wagen ihr Reich zu betreten. Die Auftrittsarie „In questa Reggia“ hat die Operndiva zwar schon in der Vergangenheit gesungen, dennoch kann man insgesamt von einem Rollendebüt sprechen. Ihrem Text verleiht sie stets die erforderliche Bedeutung. So gibt sie etwa dem Wort „Schrei“ Druck und Schärfe, ohne die Schwelle zum Unangenehmen zu überschreiten.

Ihr Gatte Yusif Eyvazov wirkt als Calaf derweil etwas hölzern, auch wenn er über eine starke Stimme verfügt. Darstellerisch darf man ihm ebenfalls Defizite ankreiden. Eine der berühmtesten Opernarien überhaupt, „Nessum Dorma“ bringt er aber ausdrucksstark über die Bühne. Der unter den Kritikern allseits verliehene Status eines lästiges Anhängsels Netrebkos, das ihr im Übrigen nicht das Wasser reichen kann, ist nicht gerechtfertigt. Insgesamt zeigt Eyvazov sich souverän und standhaft. Ob seine Darbietung den hohen Kartenpreisen entspricht bleibt Ansichtssache.

Um die Rätselprüfung anzutreten muss der Prinz einen Gong betätigen. Die riesige Linse in Mitten der Bühne erfüllt neben ihrer Funktion als Big-Brother-Auge und Guillotine auch diese Aufgabe. Vollkommen aus der Zeit gefallen sind hingegen die 3D-Animationen die ebenso auf den Kreis projiziert werden. Galten diese bei der Premiere der Inszenierung Ende 2011 noch als modern, wirkt das Ganze heute überflüssig. Das Rascheln der Rot-Blau-Anaglyphenbrillen nervt und die Effekte haben überwiegend nur Selbstzweck.

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Mit jedem gelösten Rätsel bröckelt Turandots Eishülle etwas mehr. Die Plattform auf der Netrebko steht bebt zunehmend heftiger, entsprechend zeigt ihre Stimme Regung. Nach bestandener Prüfung bricht die Nacht an. Beeindruckend sind die etwa einhundert Wohnzellen aus aufgespannten Seilen und dazwischen auf verschiedener Höhe eingerichteten Sitzplattformen. Hiermit wird die Wohnungsknappheit in den chinesischen Großstädten beleuchtet. Peking schläft nicht („Nessum Dorma“), und das liegt nicht nur daran, dass alle bestrebt sind, den Namen des tatarischen Prinzen zu erfahren. Omnipräsente Leuchtreklame mit asiatischen Schriftzeichen macht die Nacht zum Tag.

Unvollendetes Finale

Puccini hatte Schwierigkeiten seine Oper zu vollenden und schaffte dies zeitlebens nicht. Der Meister starb bevor Turandot fertig komponiert war. Einer seiner Schüler, Franco Alfano, komplettierte das Werk mit einem grandiosen Finale, doch darüber ob sein Schluss gelungen ist, streiten sich die Kritiker noch heute. In München hat man sich entschieden, nur die von Puccini fertiggestellte Fassung zu spielen, ein Schlussduett von Turandot und Calaf fehlt. Infolgedessen gibt es ein paar Augenblicke weniger Netrebko und Eyvazov. Das dürfte viele enttäuschen. In der Tat ist es bedauernswert, dass eine Sopranistin solchen Rangs und Namens beinahe den ganzen letzten Akt schweigt oder nur einige kurze Phrasen einstreut. Nach dem eindrucksvollen Mittelteil verkommt sie gesanglich gezwungenermaßen zu einer Statistin. Darstellerisch ergreift sie indessen die Möglichkeit, aus sich herauszugehen.

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Der Abend ist aber natürlich nicht in erster Linie an der Quantität des Gesangs zu messen. Sollte man nicht aufhören, wenn es am Schönsten ist? Mit der Folterszene Liùs endet das Opernerlebnis jedenfalls nicht nur an einem musikalischen Höhepunkt, sondern auch an einem dramatischen Wendepunkt, an dem Turandot beginnt Gefühle wie Reue und Zuneigung zu zeigen. Tatsächlich ist die Prinzessin in ihrem tiefsten Inneren keine Massenmörderin, ihre grausamen Prüfungen dienen lediglich als Schutzreflex. Hinter der Wand aus Eis verbirgt sich eine leidende Seele – und Anna Netrebkos Stimme, die selbst Beton zum Schmelzen bringen könnte.