Ein neues Kapitel Zirkusgeschichte – Circus Roncalli gastiert mit „Storyteller“ in München
Wenn 10.000 Lichter den Leonrodplatz in Neuhausen erleuchten und dies Szenerie von einem 16 Meter hohen Zelt dominiert wird, wenn eine riesige Menschenmenge darauf wartet in eine wunderbare Welt einzutauchen und der Duft gebrannter Mandeln süße Erlebnisse verspricht – dann ist wieder Circus Roncalli Zeit. Noch bis zum 12. November gibt es das Programm „Storyteller: Gestern–Heute–Morgen“ in München zu bestaunen.
Tiere? Bitte, aber nur als Animation
Seit letztem Jahr ist Roncalli konsequent: Show muss auch ohne Tiere gehen. Und so beginnt die Vorführung mit einer Animation auf einem halbdurchsichtigen Vorhang rund um die Manege. Statt lebende Tier zu zeigen setzt man nun auf moderne Technologien– Pferde, Elefanten und sogar Fische erscheinen als Hologramme. Das soll wohl innovativ wirken, kommt aber eher unspektakulär rüber. Die Stimme von Zirkusdirektor Bernhard Paul erklingt, er führt ins Programm ein.
Nach diesem eher faden Beginn folgt eine atemberaubende Darbietung in luftiger Höhe bei der Adèle Fame an den Strapaten den Abend so richtig ins Rollen bringt. In feschen Hosenträgern und mit lateinamerikanischem Feuer begeistern die Cedeños Brothers aus Ecuador. Bei ihren rasanten „Ikarischen Spielen“ gilt es stets die Körperbeherrschung zu wahren, um nach zahlreichen Salti perfekt Schuhsohle auf Schuhsohle des Partners zu landen.
Großer Zauber, viel Humor
Wem hier noch ein wenig Magie fehlt, der kann sich auf Anatoli Akermann und Eddy Neumann freuen. Aber nein, die beiden sind nicht die nächsten großen Houdinis unserer Zeit. Ganz im Gegenteil: Jedes Kind kann ihre Tricksereien ganz einfach durchschauen. Doch das soll gerade so sein, denn mit ihrem unbeholfenen Zauber greifen die beiden Clowns die Lachmuskeln des Publikums auf eine originelle Art an.
Auch der Weißclown Gensi möchte mit einem Zaubertrick beeindrucken. Er wird aber stets aufs Neue von Chistirrin unterbrochen, der die Rolle des dummen Augustes übernimmt. Das 28 Jahre alte Multitalent aus Mexiko City ist Bernhard Pauls Neuentdeckung und kann viel mehr als Grimassen schneiden. Neben dem Spiel auf allen möglichen Blasinstrumenten beherrscht das Energiebündel unter anderem Jonglage, Tanz und Akrobatik. Seine beeindruckende Singstimme hebt er sich aber noch für später auf.
Weiter geht es mit Quincy Azzario, die mit großer Leichtigkeit Handstandtricks höchsten Schwierigkeitsgrades auf einer sich drehenden Plattform präsentiert. Aus einer spanisch-englischen Zirkusfamilie stammend wurde ihr unter anderem die Ehre eines silbernen Clowns beim Circusfestival von Monte Carlo zuteil. Als der Beatboxer Robert Wicke einen Zuschauer scheinbar ganz überraschend aus der Menge in die Manege zieht, ahnt kaum jemand, zu welchem amüsanten Spektakel sich das ganze entwickelt wird. Es ist Roberts wichtig, dass seine Gäste „als Helden die Manege verlassen“. Ob das diesmal gelingt?
Von Barock bis Hightech
Nach der Pause gibt es ein Wiedersehen mit Chistirrin, der sich zusammen mit den Cedeños Brothers am Mini-Flugtrapez versucht. In originalgetreuen Kostümen aus dem frühen 20. Jahrhunderts beweisen die Brüder ihre Flugkünste, bei denen es selbst mit verbundenen Augen keine Grenzen gibt. Indessen zeigt Chistirrin auf seine tollpatschige Art eine hinreißende Kombination aus Humor und Luftakrobatik.
Und dann gibt es noch Paolo Carillon, der mit einer Mischung aus Steampunk und Clownerie eine Geschichte erzählt, die zum Träumen anregt. Sentimentale Musik trifft auf ein pochendes Herz. Alle seine Requisiten baut er selbst, so auch einen Zylinder mit eingebauter Dampflokomotive. Mit den anfangs gezeigten Hologrammen ist bildlich gesprochen noch nicht das Ende der Hightech-Fahnenstange erreicht, denn UliK Robotic zeigt eine zukunftsorientierte Art des Chinese Pole, genannt „RoboPole“. Auf einem Roboterarm begibt sich ein Artist dabei bis auf neun Meter in die Höhe, um an einer Carbon Stange spektakuläre Kraftakte zu vollführen. Erstaunlich präzise gleitet der Stab zuweilen nur wenige Zentimeter an dessen Kopf vorbei.
Zu einem Remix von Barock bis Rock zeigen Bernhard Pauls älteste Tochter Vivian und ihre Partnerin Natalia Rossi als „Queens of Baroque“ eine kunstvolle Nummer an einem Kronleuchter unter der Decke. Den musikalischen Rahmen bietet dabei wie immer das „Roncalli Royal Orchestra“, dessen Solo-Geiger an dieser Stelle besonders zur Geltung kommt. Das Ensemble begleitet alle Artisten bei ihrer Darbietung und unterstreicht an den passenden Stellen die Dramatik.
Quasi als Gegenpol zu den Cedeños Brothers beweisen die drei Bello Sisters Celine, Loren und Jolie aus Italien mit ihrer Adagio-Equilibristik unglaublich viel Kraft und Grazie. Scheinbar mühelos bilden sie Brücken und Pyramiden aus ihren eigenen Körpern. Zum Schluss setzt Zhenyu Li mit seiner Handstand-Equilibristik auf zwei wackligen Türmen, mit denen er sich immer höher stapelt ein Ausrufezeichen.
Nach dem eher holprigen Start ist die Vorstellung wie im Flug vergangen. Es wurde viel gelacht, gestaunt, geträumt. Bevor es Abschiednehmen heißt singt Chistirrin noch ein Lied in seiner spanischen Muttersprache. Das war eine Show, die noch lange in Erinnerung bleiben wird.
„Storyteller“ ist noch bis zum 12. November 2019 am Kreativquartier am Leonrodplatz in München zu sehen.